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Filmkritik
Das Timing ist bemerkenswert. Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen des dritten, „Die Assistentin“ betitelten Romans von Caroline Wahl kommt die Verfilmung ihres Debütwerks „22 Bahnen“ aus dem Jahr 2023 auch schon in die Kinos. Nimmt man die Caroline-Wahl-Fanbase beim Wort, dann muss man sich um den Erfolg des Films nicht sorgen. Man muss nur die rund eine Million verkauften Exemplare des Erstlingsromans mit den Empfehlungen im Freudinnenkreis multiplizieren und dazu noch diverse Auszeichnungen und nicht zuletzt die Publicity der zahllosen Caroline-Wahl-Home-Stories in Print, Funk und Fernsehen hinzuaddieren. Und da sich die Warenproduktion im Kulturbetrieb immer noch mehr beschleunigt, schaffte es „22 Bahnen“ in einer Inszenierung von Konstanze Kappenstein nicht nur auf die Theaterbühne, sondern auch in den hehren Kreis schulischer Pflichtlektüren nebst Reclam-Lektüreschlüssel. Was üblicherweise impliziert, dass ein Kino- und/oder Theaterbesuch die Lektüre des schmalen Bandes ersetzen können sollte. Reichlich Gründe also für einen Kinobesuch.
Eine Jugendliche kümmert sich
Für alle diejenigen, die sich dem Hype um „22 Bahnen“ bislang entziehen konnten, hier eine kurze Zusammenfassung, worum es „im traurigsten Haus der Fröhlichstraße“ in einer namenlosen Kleinstadt geht. Tilda, Mitte 20, kümmert sich. Um ihre arbeitslose und alkoholkranke, dabei aber komplett uneinsichtige und selbstmitleidige Mutter Andrea, um ihre kleine Schwester Ida, ums Haushaltsgeld und ihr Mathe-Studium an der Universität, die mit den Nahverkehr in etwas mehr als einer Stunde zu erreichen ist. Von den Vätern der Mädchen: keine Spur.
Wenn Tilda sich einmal nur um sich kümmern will, geht sie ins Schwimmbad, wo sie die titelgebenden 22 Bahnen schwimmt. Oder auch mal 23 oder 21 Bahnen. Tilda wird schnell wütend, wenn sie sich verzählt. So sieht der Alltag in der Fröhlichstraße aus, wenn die Mutter mal wieder den Herd angelassen hat, bevor sie sich nachmittags in den Schlaf trinkt. Beutel mit leeren Flaschen dokumentieren die Schwäche der Mutter, der insbesondere Ida ausgeliefert ist.
Als ihr Professor versucht, Tilda eine Promotionsstelle für Stochastik in Berlin schmackhaft zu machen, muss die junge Frau sich entscheiden, ob sie sich auch einmal selbst die Nächste sein darf. Es liegt in der Struktur dieser beschädigten Familie, dass es dazu das ausdrückliche Einverständnis aller Beteiligten braucht.
Schweres in einfacher Sprache
Vielleicht ist es gerade diese Dialektik von Helfersyndrom und Care-Arbeit zwischen Verantwortung und Freiheit, die den Erfolg des Romans ausmacht. Deren schwermütige Klischeehaftigkeit wird nämlich durch eine ganze Reihe überraschend „lustiger“ Einfälle und einem rotzig-frechen Sound in einfacher Sprache abgefedert. Weil Tilda eine begabte Mathematikerin ist, beschreibt sie Strukturen gerne durch Zahlen. Da sind die 22 Bahnen im Schwimmbad, die 67 Minuten zur Universität, die Feststellung, zu 66,67 Prozent eine „überwiegend intakte Familie“ zu sein, die Erkenntnis, dass die Mutter ihr Versprechen, sich zu ändern, bereits 17-mal beteuert hat. Ihre Zeit an der Kasse des Supermarkts vertreibt sich Tilda durch soziologische Studien, indem sie von dem, was vor ihr auf dem Band liegt, auf die Käufer zu schließen versteht. Womit sie meist richtig liegt. Jedenfalls in den wenigen Szenen, die es in der Verfilmung zu sehen gibt. Im Roman indizierte die Warenwelt dagegen – ganz im Sinne älterer Pop-Literatur – die Gegenwärtigkeit der Beobachtungen.
Mitten in diese Tristesse des Immergleichen platzt nun das Angebot der Promotionsstelle in Berlin, gleichermaßen als Job wie als Chance. Mit dem Nachteil und Vorteil, dass Berlin weiter als 67 Minuten von der Fröhlichstraße entfernt liegt. Tilda erkennt, dass ihr nur wenig Zeit bleibt, um Ida zur „Kämpferin“ zu formen. Ida muss Tilda werden, damit Tilda nicht wie ihre Mutter wird.
„Bock auf Leben“
Als wäre all dies nicht schon genug, taucht irgendwann der mysteriöse Viktor im Schwimmbad auf. Auch er schwimmt immer 22 Bahnen. Allerdings ist er nicht zu 33,33 Prozent eine überwiegend intakte Familie, weil seine komplette Familie bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Er sitzt auch nicht im Supermarkt an der Kasse, sondern macht irgendwas mit IT. Viktor ist nicht nur geheimnisvoll und attraktiv, sondern er ist auch der ältere Bruder von Ivan, mit dem Tilda in ihrer hedonistischen Phase auf Raves Drogen eingeschmissen hat. Auch in der Nacht vor der unglückseligen Autofahrt, bei der vielleicht Ivan am Steuer saß.
Dieser zweite Handlungsstrang, der um Verantwortung und Schuld kreist, beschert dem Film den Anflug einer Liebesgeschichte, die Tildas Entscheidung nicht gerade erleichtert. Wenn hier also Trauma, Tragik und Trauer mit großer Kelle ausgeschenkt werden, besteht das Kunststück von Roman wie Verfilmung darin, einen Ton zu finden, der lebensbejahend wirken soll. „22 Bahnen“, so die Autorin, sei (auch) eine Sommergeschichte, deren Figuren trotz allem (mit einer Ausnahme) „Bock auf Leben“ haben.
Die Bilder der Fans
Dass die Regisseurin Mia Maariel Meyer und die Drehbuchautorin Elena Hell nicht den Ehrgeiz entwickeln, eine gegen den Strich gebürstete Lesart der Geschichte zu entwickeln, ist bei einer Bestseller-Verfilmung nur allzu verständlich. Schließlich wollen die Fans die Bilder, die sie im Kopf haben, bestätigt wissen. Es ging bei der Adaption also darum, für ein Stück leicht zugänglicher Literatur, die gleichzeitig Tiefe suggeriert, ein Äquivalent mit Arthouse-Appeal zu entwerfen.
Die „22 Bahnen“-Verfilmung verlässt sich dabei im Wesentlichen auf die Qualitäten der Hauptdarstellerinnen, die „zwischen den Zeilen“ überzeugen müssen, was Luna Wedler als Tilda und Zoë Baier als Ida auf je spezifische Weise nachdrücklich gelingt. Herausragend ist allerdings Laura Tonke, die das widersprüchliche und unzumutbare Gefühlsrepertoire der Mutter zwischen Verzweiflung und Bockigkeit, Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit, Angst und Hilflosigkeit profiliert, ohne die Figur zu denunzieren. Was ein Leichtes gewesen wäre, aber dem Film so einen Moment der Komplexität und Verbindlichkeit verschafft, die der Romanvorlage abgeht.