









- Veröffentlichung24.07.2025
- RegieMaura Delpero
- ProduktionBelgien (2025)
- Dauer119 Minuten
- GenreDrama
- Cast
- IMDb Rating6.9/10 (4706) Stimmen
Vorstellungen






Filmkritik
„Epistolare“, brieflich, lautet in Vermiglio ein wichtiges Wort. Im Schulunterricht wird es mit dem eigenen Erfahrungshorizont begreifbar gemacht. Der schwierige Begriff bedeute „jegliche Art der Mitteilung von Ereignissen oder Gefühlen“, so der Dorflehrer Graziadei. Die Kinder erzählen von angekommenen und nicht angekommenen Briefen ihrer an der Front kämpfenden Brüder und Väter. „Für mich sind auch kleine Zettel eine Briefgattung“, schreibt die Tochter des Lehrers in ihr Aufgabenheft. Sie spielt dabei auf eine Botschaft an, die ihrer älteren Schwester nach dem Kirchgang heimlich zugesteckt wurde: ein gezeichnetes Herz. Der Schreiber ist Analphabet.
In dem kargen, in den italienischen Alpen gelegenen Dorf scheint alles weit weg, was sich jenseits der Berge abspielt: der Krieg, die Stadt, der Süden. Bis Ereignisse die lokale Zeitung erreichen oder Briefe ihre Empfänger, vergehen oft Tage, manchmal sogar Wochen. Regionen, in denen Orangen wachsen, werden allein durch sehnsuchtsvolle Blicke in den Weltatlas bereist. Es ist ein überschaubarer, von äußeren Einflüssen abgeschotteter Raum, beherrscht von kirchlicher und väterlicher Autorität und dem Zyklus der Jahreszeiten.
Sieben Tassen Milch
An einem kalten Wintermorgen bricht im Haus der Familie Graziadei ein neuer Tag an. Noch schlummern alle in ihren schweren Holzbetten, teilweise zu zweit oder zu dritt. Das Baby erwacht. Im Stall melkt die älteste Tochter die Kuh. Das Ausschenken der Milch inszeniert „Vermiglio“ wie einen Abzählreim. Sieben Mal wird eine Tasse von der Mutter befüllt, bis sich alle schweigend um den Tisch versammelt haben. Am Kopfende sitzt der Vater. Als Dorflehrer, der Kinder wie Erwachsene unterrichtet, nimmt er auch außerhalb der Familie die Rolle eines milden Patriarchen ein.
Die Ankunft des desertierten Attilio (Santiago Fondevila Sancet), der von seinem Kameraden Pietro (Giuseppe De Domenico) auf den Schultern über die Berge getragen wird, bringt Unruhe in das feste Gefüge des Ortes. Die beiden Männer wirken wie innerlich erloschen; Pietro, der wortkarge Mann aus dem fernen Sizilien, wird im Heuschober versteckt und wartet dort auf das Ende des Krieges. Nicht jeder im Dorf ist damit einverstanden. Schließlich sind die eigenen Söhne noch immer im Feld. Doch allmählich verflüchtigt sich der Widerstand, und der Fremde, in den sich bald die älteste Tochter Lucia (Martina Scrinzi) verliebt, findet Aufnahme in die Gemeinschaft.
Behutsam entfaltet die italienische Filmemacherin Maura Delpero den Mikrokosmos von dörflicher und familiärer Welt im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs. Doch auch wenn sich das Leben in Vermiglio noch so sehr ans Sichtbare und Konkrete hält: Jede und jeder hütet doch auch Geheimnisse. Die Kriegsheimkehrer, die sich über das Erlebte in Schweigen hüllen, „als hätte man ihnen die Zunge abgeschnitten“. Der Vater, der in seinem Zimmer zu den Klängen von Chopin einem dem Blick der Kamera zunächst noch verborgenen Ritual nachgeht. Ada, die mittlere der drei Schwestern, die heimlich masturbiert und sich mit Bußaufgaben bestraft. Und Virginia, das rebellische Mädchen aus dem Dorf. Sie raucht geklaute Zigaretten und schwärzt sich mit der Asche die Augenlider. Zwischen den beiden Mädchen entsteht eine unausgesprochene Komplizenschaft. In einer anderen Welt könnten sie gemeinsam fortgehen, vielleicht sogar ein Liebespaar werden.
Wie Frauen diese Welt erfahren
Wie schon in ihrem Debüt „Maternal“ (2019) konzentriert sich Delpero ganz auf die weibliche Erfahrungswelt. Um in dieser großen Familie seinen eigenen Wünschen und Sehnsüchten nachzugehen, muss man sich ein Versteck suchen: hinter dem Schrank, unter dem Tisch oder in der Scheune. Die Freiräume sind knapp bemessen, die Plätze bereits verteilt. Die hellwache Flavia, mit 13 die jüngste unter den Mädchen, bekommt vom Vater zusätzlichen Unterricht erteilt. Sie darf die weiterführende Schule besuchen, anders als Ada, die sich ins Kloster flüchtet. Der Mutter, von harter Arbeit, zehn Geburten und dem Verlust des jüngsten Kindes gezeichnet, bleibt hingegen keine Wahl. Kaum ist das neue Baby auf der Welt, ist sie schon wieder schwanger. Aber auch der älteste Sohn Dino, vom Vater als Nichtsnutz abgewertet, ist von der patriarchalen Ordnung betroffen.
Während das Essen in der Familie Graziadei knapp bemessen ist, gönnt sich der Vater eine neue Schallplatte – „Nahrung für die Seele“. Die Geschichte erstreckt sich über den Zeitraum eines Jahres; die Wahl fällt nicht ganz zufällig auf Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“. Der Kameramann Michail Kritschman erschafft eine Welt in meist statischen Einstellungen und matten Farben. Die imposante Bergkulisse, im Winter von einer dichten Schneedecke überzogen, wirkt zu jeder Jahreszeit einengend. Nie evozieren die Bilder das Gefühl majestätischer Erhabenheit, aber auch nicht von Nestwärme. Auch die Montage verknappt. Delpero arbeitet mit Auslassungen, ohne zu verrätseln; nichts wird ausformuliert.
Der Krieg ist vorbei
Der Film, der mit professionellen Darsteller:innen und Laien gedreht wurde, ist auch ein Film der Gesichter: Die Fragen, die sich auf ihnen abzeichnen, bleiben meist ungestellt. Als der Schnee geschmolzen ist, hat auch der Krieg sein Ende gefunden. Doch Ruhe kehrt keine ein in Vermiglio.