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Filmkritik
Für seinen Bewährungshelfer gilt der frisch aus dem Knast entlassene Thomas (Christoph Maria Herbst) als potenzieller Rückfallkandidat. Als einer, der schneller wieder drinnen ist, als dass er draußen Fuß fassen kann. „Ich bin doch kein Serienmörder“, entgegnet Thomas unter Verweis auf seine Willenskraft. Aber ein Immobilienbetrüger, in gleich 16 Fällen. Nicht nur für Vollzugsbeamte zählt das schon als Serie.
Eine unwahrscheinliche Drehbuchvolte
Tatsächlich gibt es nicht viel, was zu Beginn von Hanno Olderdissens „Ganzer halber Bruder“ auf Thomas wartet, dessen Habseligkeiten in eine Ledertasche passen. Sein Auto, ein altes Vintage-Cabrio, muss er heimlich aus einer Garage entwenden, in der es einer seiner Gläubiger zwischengeparkt hat. Nicht einmal seine ehemalige Kollegin (Tanja Schleiff) möchte ihm eine vorübergehende Unterkunft gewähren, obwohl er mit ihr einst durch eine Affäre verbunden war. So einem zwielichtigen Unglücksraben kann nur eine unwahrscheinliche Drehbuchvolte zu Hilfe eilen. Deshalb erfährt Thomas, der als vermeintliches Waisenkind in Heimen aufgewachsen ist, in der Kanzlei eines Notars, dass seine leibliche Mutter nach einem Schlaganfall ins Koma gefallen ist und ihr Haus als vorzeitige Schenkung an ihn fällt. Eine Klausel gibt es dennoch: Sein Halbbruder Roland (Nico Randel), der mit Down-Syndrom lebt, besitzt im Haus ein lebenslanges Wohnrecht. Thomas‘ Vision, durch die neue Immobilie an gleich mehrere Millionen zu kommen, wird dadurch erheblich erschwert. Doch es dauert nicht lange, bis er auf einen semikriminellen Plan verfällt, um das unerwünschte Familienmitglied vor die Tür zu setzen.
Diese Konstellation zweier ungleicher Männer, die sich annähern müssen, ist seit Barry Levinsons „Rain Man“ (1988) hinlänglich bekannt, dessen Erfolg der Sichtbarkeit psychischer und physischer Beeinträchtigung im Mainstreamkino den Weg ebnete. Die Rolle des Autisten mit Inselbegabung, der alleiniger Erbe des väterlichen Vermögens wird, während sein Yuppie-Bruder leer ausgeht, spielte damals Dustin Hoffman in einer rein darstellerischen Anverwandlung einer neuronalen Störung. Seitdem haben viele Filme das Erzählschema und Sentiment von „Rain Man“ kopiert. Am kommerziell erfolgreichsten gelang dies Olivier Nakache und Éric Toledano in „Ziemlich beste Freunde“ (2011), im deutschen Kino zuletzt Markus Goller auf eher schamlos-exploitative Weise mit „Simpel“ (2017).
Der Alltag eines Menschen mit Down-Syndrom
Davon setzt sich „Ganzer halber Bruder“ allein schon dadurch ab, dass mit Nico Randel ein Darsteller mitspielt, der seit Geburt Trisomie 21 hat. Auch sonst ist der Film sichtlich bemüht, manche Schieflage in der Darstellung geistiger Beeinträchtigung auf der Leinwand zu korrigieren. Etwa indem der Film auf eine fadenscheinig konstruierte Road-Movie-Struktur verzichtet und sich stattdessen aufrichtig auf den Alltag eines Menschen mit Down-Syndrom einlässt. Die übliche Brachialität, die solchen Komödien bisweilen anhaftet, bleibt hier außen vor.
Doch gute Absichten führen nicht von selbst zu gelungenen Ergebnissen. Denn die Balance einer Tragikomödie glückt „Ganzer halber Bruder“ in keiner Weise. Dazu fehlt dem Film jegliche Finesse oder eine originäre Inspiration im Umgang mit dem komödiantischen Material. Christoph Maria Herbst, ein seit Jahren viel gebuchter Gewährsmann für humorvolle Unterhaltung, die das leicht verträglich Dramatische nicht scheut, variiert lediglich eine für ihn typische Rolle, der er nichts weiter hinzufügt als etwas zu gekonnt abgespulte Manierismen. Den zu läuternden Choleriker mit mühsamer Impulskontrolle spielt er mit gewohnt verspanntem Grinsen und gerunzelter Stirn, stechendem Blick und spillerigen Bewegungen: eine Leistungsschau wie aus dem Repertoire eines zu lange laufenden Boulevardtheaterstücks.
Eine ganze halbe Sache
Unter diesem aufdringlichen Auftritt leiden auch die etwas gelungeneren Ideen, beispielsweise die emotional wechselnden Temperaturen der Geschichte im Soundtrack anhand zahlreicher Coverversionen des Songs „Sunny“ zu verstärken. Unentschlossen irrlichtert der Film so zwischen lediglich schraffiertem Familiendrama und unbeholfen konstruierter Kriminalkomödie und ist als Genre-Arbeit ganz eine halbe Sache.