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Maldoror

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Szenebild von Maldoror 1
Belgien, Mitte der 1990er-Jahre: Zwei Mädchen verschwinden am helllichten Tag. Die Suche nach ihnen füllt lange die Schlagzeilen, doch liefert kein Ergebnis. Der idealistische junge Ermittler Paul Chartier wird Teil einer verdeckten Spezialeinheit, die über Wochen hinweg den vorbestraften Sexualstraftäter Marcel Dedieu beschattet. Aber Bürokratie und Überarbeitung führen trotz belastender Hinweise zum Ende der Operation „Maldoror“. Paul kann und will das nicht akzeptieren und arbeitet unermüdlich auf eigene Faust weiter, um Dedieu zu überführen. Dabei steigert sich der Polizist immer stärker in seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit – und läuft Gefahr, nicht nur seine junge Familie, sondern auch sich selbst endgültig zu verlieren … Fabrice du Welz, seit CALVAIRE und VINYAN sowieso schon einer der Großen im anspruchsvollen europäischen Genrekino, greift mit seinem neuen Film MALDOROR die wahre Geschichte des berüchtigten belgischen Serienmörders Marc Dutroux auf. Getragen von der überragenden schauspielerischen Leistung von Anthony Bajon, der jede Minute mit absoluter Präsenz dominiert, inszeniert du Welz hier zu einer bedrohlich pulsierenden Tonspur einen rohen und zugleich epischen True-Crime-Bastard. In perfekt trostlosem 1990er-Jahre-Look passiert Gewalt, weil keiner hinsehen will, und Gerechtigkeit zählt nur so viel wie der Mann, der sie austeilt. Unbequemes Meisterkino vom Allerfeinsten!
  • Veröffentlichung13.09.2024
  • Fabrice Du Welz
  • Belgien (2024)
  • 155 Minuten
  • DramaThrillerKrimi
  • FSK 18
  • 6.8/10 (32) Stimmen

Leider gibt es keine Kinos.

In der belgischen Region Wallonien verschwinden Mitte der 1990er-Jahre zwei Mädchen. Im Vorspann des auf wahren Begebenheiten basierenden Thrillers „Maldoror“ informiert eine Texttafel über den umständlichen Verwaltungsapparat und die Fehler der Polizei, die es bisher verhinderten, den Fall zu lösen. Wo der Staat versagt hat, bündelt sich nun der Volkszorn. Da es immer noch keine Fortschritte bei den Ermittlungen gibt, mobilisieren sich in der heruntergekommenen Industriestadt Charleroi die Anwohner, um die vermutlich entführten Mädchen zu finden.

Auch der noch etwas kindlich und unbedarft wirkende junge Polizist Paul (Anthony Bajon) wird von seinem Gerechtigkeitssinn angetrieben, manchmal sogar überwältigt. Bei einem Einsatz beginnt er in blinder Wut loszuprügeln. Erst später erfahren wir, was ihn an der dysfunktionalen Problemfamilie in diesem Moment so getriggert hat: Auch Paul selbst stammt aus einem zerrütteten und gewalttätigen Elternhaus, zu seiner alkoholkranken Mutter (Béatrice Dalle), einer ehemaligen Prostituierten, hat er den Kontakt abgebrochen. Ein neues und besseres Leben erwartet ihn nun, mit einem zukunftsträchtigen Job und einer Frau, die er liebt.

Der Kampf um Gerechtigkeit wird zur Obsession

Der Kampf um Gerechtigkeit wird für ihn allerdings bald zur Obsession und Paul zunehmend zu einer tragischen, selbstzerstörerischen Figur, wie man sie aus vielen Polizeifilmen kennt. Alles beginnt damit, dass er Teil der verdeckten Polizeieinheit „Maldoror“ wird, die den der Entführung verdächtigten Dedieu (Sergi López) überführen soll: einen pädophilen Straftäter, der in allerlei dubiose Geschäfte verwickelt ist. Zwischen den unterschiedlichen Polizeibehörden herrscht jedoch ein infantiles Konkurrenzdenken, und auch die Bürokratie lähmt die Ermittlungen, was den ehrgeizigen Paul nur noch manischer werden lässt.

Für „Maldoror“ hat sich der Regisseur Fabrice du Welz von den Verbrechen des Serienmörders Marc Dutroux inspirieren lassen. Es wurde nicht nur in Dutroux’ Heimatstadt gedreht, auch die Geschehnisse im Film decken sich manchmal bis in Details mit der Wirklichkeit. Die Szene, in der Paul das Haus Dedieus durchsucht und dabei ein Flüstern zu hören glaubt, basiert etwa auf einer realen Episode, in der ein Polizist zwei eingemauerte und noch lebende Mädchen hörte, sie aber nicht ausfindig machen konnte. Seinen Protagonisten hat der Regisseur dagegen erfunden, ebenso wie das Ende und die Enthüllung, dass Dedieu Teil eines größeren Kindesmissbrauchsrings ist, der bis in Regierungskreise führte. Diese Vermutung gab es zwar tatsächlich, sie konnte allerdings nie bewiesen werden.

Milieuschilderungen stehen im Vordergrund

Die epische und facettenreiche Erzählung von „Maldoror“ entfaltet sich zunächst nur langsam. Die Inszenierung wirkt dabei fast dokumentarisch. Statt eine herkömmliche Geschichte zu erzählen, konzentriert sich du Welz stärker auf Milieuschilderungen in der von Armut und Kriminalität geprägten Gegend. Unter anderem gewährt er dabei Einblicke in die Rotlichtszene sowie in die in Charleroi ansässige sizilianische Gemeinde, der auch Pauls Frau Gina (Alba Gaïa Bellugi) angehört.

Bisweilen wirken diese beobachtenden Momente etwas zu vorsichtig verdichtet und zu unausgearbeitet, um klarzumachen, was du Welz genau an ihnen interessiert. Sie verleihen der porträtierten Welt zwar Authentizität, schneiden aber auch zahlreiche Erzählstränge an, die aus Zeitmangel dann nicht weiterverfolgt werden. Von Pauls Beziehung zu Gina hätte man gerne ebenso mehr gesehen wie von den genaueren Strukturen des scheinbar bedeutenden örtlichen Bordells und den Versäumnissen von Polizei und Justiz. Und doch profitiert „Maldoror“ auch immer wieder von seiner zurückhaltenden Dramaturgie, weil die Gewalt plötzlich auf schockierend alltägliche Weise hereinbricht. Besonders einprägsam ist Sergi López als Dedieu, weil er das Unbeschreibliche mit trügerischer Normalität und Harmlosigkeit zu kaschieren weiß.

Immer wieder bricht „Maldoror“ dann auch seinen Realismus, lässt die Kamera wie im Rausch taumeln und die pochende elektronische Musik von Vincent Cahay bedrohlich anschwellen. Zunehmend verwandelt sich die Geschichte in einen Albtraum, den wir durch die Augen des immer blindwütigeren Pauls erleben. Anthony Bajon verkörpert ihn nicht als klassischen Sympathieträger, sondern als unkontrollierbare Naturgewalt. Immer mehr handelt sein Paul unvernünftig, egoistisch und fatal. Selbst bei der Geburt seines Kindes ergreift er wie ferngesteuert die Flucht, um von den Ermittlungen nichts zu verpassen. In ihm drückt sich die Wut und Ohnmacht angesichts der nationalen Schande, die der Dutroux-Fall für Belgien bedeutete, aus. Paul ist das derangierte Produkt einer kaputten Gegend und wird letztlich auch zu ihrem mahnenden schlechten Gewissen.

 

Veröffentlicht auf filmdienst.deMaldororVon: Michael Kienzl (15.9.2025)
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