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Sirāt

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Ein Vater (Sergi López) und sein Sohn kommen auf einem abgelegenen Rave inmitten der Berge Südmarokkos an. Sie sind auf der Suche nach Mar, ihrer Tochter und Schwester, die vor Monaten auf einer dieser niemals endenden, schlaflosen Partys verschwunden ist. Umgeben von elektronischer Musik und einem rohen, ungewohnten Gefühl von Freiheit, zeigen sie immer wieder ihr Foto herum. Die Hoffnung schwindet, doch sie geben die Suche nicht auf und folgen einer Gruppe von Ravern zu einer letzten Party in der Wüste. Je tiefer sie in die glühende Wildnis vordringen, desto mehr zwingt sie die Reise, sich ihren eigenen Grenzen zu stellen.
Mit SIRÂT präsentiert der vielfach ausgezeichnete Regisseur Óliver Laxe seinen bislang radikalsten Film. Er führt seine Figuren und das Publikum auf einen erschütternden Weg zwischen Leben und Tod, zwischen Rausch und Offenbarung. Ein Vater sucht in der Wüste Marokkos nach seiner verschwundenen Tochter – und findet dabei eine tiefere Wahrheit über sich selbst. Der Film ist eine spirituelle Reise durch Schmerz, Stille und Ekstase, getragen von hypnotischen 16mm-Bildern und einem treibenden Soundtrack von Kangding Ray. SIRÂT ist Kino als Grenzerfahrung – roh, intensiv und zutiefst menschlich.
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Eine Raveparty, irgendwo in einem namenlosen Wüstengebiet in Marokko. Zuerst sieht man in „Sirât“, wie sehr ruhig und bestimmt riesige Lautsprecher mitten in einer weiten Ebene aufgestellt werden. Die Kamera zeigt dabei zunächst nur die kräftigen, vom Leben gezeichneten Arme und Hände, die das tun. Handwerk und Handarbeit und die Zeit, die beides braucht, sind in diesem schnellen, intensiven Road Movie mit Elementen eines Psychothrillers überhaupt sehr wichtig. Dann beginnt der elektronische Beat zu hämmern, während die Titel-Credits über die Körper der selbstvergessen Tanzenden hinwegziehen.

Der knapp 60-jährige Luis (Sergi López, das einzige bekannte unter lauter Darsteller-Gesichtern, die meist Laien gehören) sucht an diesem Ort gemeinsam mit seinem kleinen Sohn Esteban seine vor Monaten verschwundene Tochter. Am nächsten Morgen schließt er sich einer Gruppe der Raver an, die mit zwei geländegängigen Trucks durch ein Wüstengebiet fahren wollen, irgendwohin zur nächsten Raveparty und jedenfalls weg von der Zivilisation mit ihren Zwängen, Regeln und Normierungen.

So wird dieser Film zu einem Road Movie sehr, sehr eigener Art, zu einer Fahrt ins Ungewisse. Seine Erzählprämisse – die Tochtersuche und der Wüstentrip – entpuppt sich rasch als loses und durchaus fragiles Gerüst, das eine Reise ins Symbolische und Abstrakte tragen soll. Durch die Bildgewalt der Inszenierung mit ihrem starken sinnlichen, dramatischen wie auch metaphorischen Potenzial wird dies aber zunehmend unwichtig. Denn die Protagonisten und mit ihnen das Publikum erleben Grenzerfahrungen: Sie liegen in der Musik und ihrem Rhythmus, in der Trance, die sie erzeugen; in der Geschwindigkeit der Fahrzeuge und schließlich in Grausamkeiten, die sich im Laufe dieses Trips ereignen – und die hier vorwegzunehmen tatsächlich das Erlebnis einer Erstsichtung verderben müsste: Dies ist ein Film, der all unsere Sinne und Gefühle anspricht, den man mit jeder Faser leiblich spürt und erlebt und der trotzdem den Verstand nicht ausschaltet, sondern ihn aufweckt, anregt und für vielfältige Deutungen öffnet.

Aufeinandertreffen zweier Familienmodelle

Was hier zu erleben ist, ist unter anderem das Aufeinandertreffen zweier Familienmodelle: Die klassische Kernfamilie (Vater-Mutter-Kind) ist – mutterlos, tochterlos – zerbrochen, so sehr, dass über die Ursachen dafür in diesem Film schon gar keine Worte mehr verloren werden, und sie zerbricht weiter. Sie trifft in den Ravern auf ein neues, fluideres Familienbild, das mit „Patchwork“ nur unzureichend beschrieben ist. Diese selbsternannten Außenseiter, Nonkonformisten und drogen- wie musikberauschten Diener der Ekstase stellen eine neue Stammesform dar, einen Ausdruck der mysteriösen Kraft von Mythos und Trance, der eher an schamanische Rituale von Naturvölkern erinnert als an New-Age-Hippies. Es sind Versehrte, Freaks und Außenseiter, mit amputierten Gliedern, Gesichtstattoo, einfacher Sprache, arkanen Ritualen, großer Herzenswärme und Selbstlosigkeit.

Der Titel „Sirât“ stammt aus dem arabischen Islam: Es bezeichnet die Brücke, die alle Menschen überqueren müssen, um das Paradies zu erreichen. Unter dieser Brücke liegt die Hölle. Manche Menschen überqueren sie sicher, andere stürzen in die ewige Dunkelheit. Die Brücke, heißt es zu Beginn, sei „so dünn wie ein Haar und so scharf wie ein Messer“. Diesen scharfen, schmalen Grat beschreiten die Figuren.

Vom Rausch in die Angst und dann womöglich Erlösung

Dies ist ein allegorischer Trip, der vom ekstatischen Rauschzustand in die Angst und dann in das Glück einer Befreiung führt. Womöglich finden die Figuren auf diesen Umwegen Erlösung. Sich auf diese filmische Reise überhaupt erst einzulassen, zur der der spanisch-französische Regisseur Oliver Laxe – der in Galicien, dem rauen Nordwesten Spaniens aufwuchs – in seinem vierten Langfilm seine Zuschauer einlädt, erfordert allerdings die Bereitschaft, die heute fast schon dogmatisch gewordenen Regeln des gewöhnlichen, pragmatisch verengten Erzählkinos zu verlassen. Über seinen bloßen narrativen Rahmen hinaus lässt dieser Film in eine Erfahrung eintauchen, die von der Art ist, die man zurzeit gern „immersiv“ nennt: Sogartig, hineinziehend, unwiderstehlich.

Diese Erfahrung ist eine doppelte Bewegung; sie gleicht ebenso sehr einem Abstieg in die Hölle wie der Suche nach einem Paradies. Ein Trip ins Spirituelle, Psychedelische, aber auch in Kontingenz und Willkür.

„Sirât“ ist darum ein eigentlich unbeschreiblicher Film. William Friedkins „The Sorcerer“ trifft „Zabriskie Point“ von Antonioni; die apokalyptische Verbrenner-Action aus „Mad Max“ trifft das meditative Traumwandler-Kino des Thailänders Apichatpong Weerasethakul. Nicht zuletzt ist es ein Wüstenfilm. Und mehr als an alle anderen dieses Subgenres, selbst an Henri-Georges Clouzots „Lohn der Angst“ – bekanntlich das Vorbild für „The Sorcerer“ – muss man auch an Werner Herzogs „Fata Morgana“ denken, in dem Wüste und Bewegung, moderne Technik und ewige Mythen ähnlich flirrend verschmelzen wie hier.

In der sehr freien Kombination solch widerstreitender Einflüsse und Anregungen zeigt der galicische Filmemacher Originalität, Eigensinn und ein beeindruckendes Gespür für Bilder voll expressiver Kraft und formaler Wucht (die Kamera führte Mauro Herce, der auch selbst Regisseur ist und hier auf 16mm analog gedreht hat) sowie für Figuren und Themen, denen sich sonst kaum jemand im Gegenwartskino widmet.

Im Bewusstsein für das Katastrophische der Gegenwart

Gelegentlich gerät Laxes Drang zur symbolischen Wucht und zum mystischen Diskurs zwar allzu offensichtlich. Aber immer wieder schlägt die gegenwärtige Wirklichkeit unmissverständlich in den Film ein: Nie aufdringlich oder didaktisch, aber unübersehbar kreuzt sich diese psychedelische Karawane mit dem Hier und Jetzt, mit Autoritarismus, mit der Willkür von Militärs und Partisanen, aber auch mit Fluchtbewegungen und Pilgerreisen, die kreuz und quer durch Afrika ihre Spuren ziehen. Laxes Film ist das Gegenteil von Eskapismus. Er ist getränkt im Bewusstsein für das Katastrophische der Gegenwart.

„Sirât“ ist konsequent, sinnlich, leidenschaftlich, kompromisslos, ohne Zugeständnisse an Mainstream-Stile oder ans Publikum zu machen – im Gegenteil voller Vertrauen darauf, dass es Menschen gibt, die sich mitreißen lassen von Atmosphären und Stimmungen, von erkennbarer Leidenschaft und eben von der erwähnten Kompromisslosigkeit. Dies ist zwar kein perfekter, aber ein wahnsinnig guter, starker Film; Kino, wie es sein sollte, Kino, in dem immer alles möglich ist: Auch der größte Unsinn, auch die schlimmste Überraschung, auch die prächtigste Schönheit.

Veröffentlicht auf filmdienst.deSirātVon: Rüdiger Suchsland (28.8.2025)
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